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Kategorie: Diagnostik | ICD-10
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Die dissoziativen Störungen oder auch Konversionsstörungen gehören gemäss ICD-10* zu den sogenannten "neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen".

Allgemeine Kritieren (F44)

Zu den allgemeinen Charakteristika einer dissoziativen Störung gehört der partielle oder unter Umständen vollständige Verlust der Erinnerung an die Vergangenheit. Damit ist nicht so ehr gemeint, dass die Erleb- nisse, an die man sich erinnern könnte, fehlen, sondern dass diese Erlebnisse nicht ins Gedächtnis integriert werden können - sie besteh- en, falls überhaupt, wie losgelöst. Das Gleiche gilt für das Bewusstsein seiner eigenen Identität, für die Wahrnehmung von unmittelbaren Empfindungen und für die Kontrolle von Körperbewegungen. Landläufig stellt man sich Schizophrenie als "Abgespaltenheit" vor oder als "Zwei- gespaltenheit" der Person. Während dies für schizophrene Störungen gar nicht so sehr zutrifft, so kann man im Falle von dissoziativen Stör- ungen diese populäre Vorstellung viel eher bemühen, um einiger- massen zutreffend die psychischen Zustände, die zu dieser Störung passen, zu beschreiben.

Diagnostische Kriterien

In den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts wurden diese Störungen auch als "Hysterie" bezeichnet respektive als "Konver- sionsneurose". Die Störungen gelten als ursächlich psychogen, immer in enger zeitlicher Verbindung mit traumatisierenden Geschehnissen, nicht auflösbaren schwerwiegenden persönlichen Konflikten oder schwer gestörten Beziehungen respektive "Beziehungserleben". Dieser chrono- logische Zusammenhang zwischen Traumatisierung und Dissoziation muss als überzeugend imponieren (erstes diagnostisches Kriterium). Ärztliche Untersuchungen ergeben zudem keine Hinweise auf soma- tische oder neurologische Erkrankungen (zweites diagnostisches Kri-

terium). Die Symptome, welche die Betroffenen beschreiben respektive welche beobachtbar sind, entsprechen sehr häufig dem Bild, das die Betroffenen von "Krankheit" ganz allgemein haben. Das heisst, sie entwickeln häufig Symptome, die ihrem eigenen Krankheitskonzept entsprechen.

Ausprägungen nach ICD-10

  1. Dissoziative Störungen haben, unterschiedslos zu ihren spezifischen Ausprägungen, die Tendenz, nach einigen Wochen oder Monaten wieder spontan zu verschwinden. Insbe- sondere dann, wenn der Beginn mit einem "life-event" zu tun hat, das traumatisierend auf die Person einwirkte. Es gibt aber auch eine chronische Entwicklung von dissoziativen Störungen, vor allem dann, wenn der Beginn derselben mit unlösbaren Problemen oder Beziehungs- schwierigkeiten (sogenannte "interpersonelle Schwierigkeiten") zusammen hing.
  2. Es gibt eine Vielzahl verschiedener Ausprägungen von dissoziativen Störungen. Darunter können im Einzelnen folgende aufgezählt werden:
  3. Dissoziative Amnesie (F44.0): Verlust der Erinnerung für meist wichtige aktuelle Ereignisse. Die Amnesie bezieht sich auf Traumatisierendes. Sie übersteigt die normale Vergess- lichkeit.
  4. Dissoziative Fugue (F44.1): Ausprägendes Kriterium ist hier das Organisieren einer Reise, welche zu einer beträchtlichen Entfernung von zuhause führt. Die Selbstversorgung der Person (Essen, Schlafen, Hygiene) bleibt erhalten, die Erinnerung daran allerdings ist mangelhaft bis fehlend (Amnesie).
  5. Dissoziativer Stupor (F44.2): Ausprägendes Kriterium ist eine Re- duktion oder Abwesenheit von willentlichen Bewegungen, von Sprache sowie kaum Reaktion auf Licht, Geräusche oder Berührung.
  6. Trance- und Besessenheitszustände (F44.3): Ausprägendes Kriterium ist die vorübergehende Bewusssteinsveränderung (kein Gefühl für die persönliche Identität, eingeengtes Bewusstsein auf die unmittelbare Umgebung, eingeschränkte Bewegungen und repetitives kleines Sprechrepertoire). Dies geschieht unfreiwillig. Es ist von bewusster Induktion von Trancezuständen zu religiösen Zwecken zu unter- scheiden. Bei der Besessenheit greift die Überzeugung in der Person die Überhand, von einer äusseren Macht beherrscht zu werden. Sowohl Trance wie Besessenheit müssen ungewollt und belastend sein. Schizophrenie ist Ausschlusskriterium. Den nun folgenden Ausprägungen ist gemein, dass sie Symptome aufweisen, welche die Betroffenen zu ihrem grundlegenden "Krankheitskonzept" zählen. Es handelt sich also um eine Phänomenologie, die dem Selbstkonzept "wenn jemand krank ist, dann ist er so wie ich" entspricht:
  7. Dissoziative Bewegungsstörung (F44.4): Kompletter oder teilweiser Verlust der Bewegungsfähigkeit, einschliesslich der Sprache (keine Mund- und Zungenmotorik mehr).
  8. Dissoziative Krampfanfälle (F44.5): Plötzliche und unerwartete Krampfanfälle, erinnern stark an epileptische Anfälle, dabei tritt aber kein Bewusstseinsverlust auf. Keine Hämatome, kein Zungenbiss oder Urininkontinenz.
  9. Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörung (F44.6): Es handelt sich hier um eine Art psychogener Schwerhörigkeit und Taubheit, inklusiver Unempfindlichkeit der Hautareale.
  10. Multiple Personlichkeitsstörung als weitere Ausprägungsart

    Zu guter Letzt gehört auch die in Film und Fernsehen bekannt gewordene "multiple Persönlichkeitsstörung" zu den sogenannten dissoziativen oder Konversionsstörungen. Hier darf mit Fug und Recht das populäre Bild der "Zweigespaltetheit" der Person bemüht werden. Es ist dies aber, nicht wie vielleicht zu erwarten wäre, keine eigenständige, völlig unabhängige Störung, die ein separates Kapitel in der Klassifikation von psychischen Störungen füllen würde. Im Gegenteil gilt die "multiple Persönlichkeitsstörung" im ICD-10 als Unter-unter-Kategorie der dissoziativen Störungen, als eine weitere Ausprägungsvariante.

  11. Multiple Persönlichkeitsstörung (F44.81): Zwei oder mehr Persönlichkeiten, die sich voneinander unterscheiden, werden von derselben Person dargestellt respektive von ihr zu unterschiedlichen Zeitpunkten erlebt und führen zu Verhalten und Einstellungen, die gelebt werden. Jede Persönlichkeit hat ihr Erinnerungsvermögen und übernimmt während einer bestimmten Dauer die volle Kontrolle der Person. Es herrscht eine Unfähigkeit, sich an persönliche Sachverhalte zu erinnern, vor, egal, welche "Persönlichkeit" gerade die Kontrolle übernommen hat. Entzugssymptome, Epilepsie oder Intoxikationen müssen ausgeschlossen werden können.