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Kategorie: Diagnostik | ICD-10
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Einleitung

Die Unterscheidung in „körperliche“ und „psychische“ Abhängigkeit ist eine sehr populäre Vorstellung. Zu Recht, wie ich finde. Der menschliche Organismus scheint nämlich eine spontane Tendenz zu haben, Handlungen zu begünstigen, die zu einer möglichst schnellen Entspannung führen können. Oder anders ausgedrückt: Es ist für den menschlichen Organ-

ismus wichtig, Anspannungen aufgrund von Lebensproblemen und den dazugehörigen Stresssymptomen schnell loszu-

werden. Dabei sind dem Organismus auch “Lösungen” recht, die zu massiven Nebenwirkungen, geradezu zu Lebensbeeinträchtigungen führen können. Psychoaktive Substanzen (Drogen) sind eine solche “Lösung”: Sie können das Erleben der Anspannung relativ schnell verändern, ohne dass deswegen die Problemursachen aktiv angegangen werden müssen.

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Psychoaktive Substanzen

Psychoaktive Substanzen können sowohl auf körperlicher wie auch auf psychischer Ebene zu Abhängigkeiten führen. Diese beiden Ebenen spielen ineinander. Wer dieses Ineinander-

spielen verstehen will, muss die Ebenen zuerst einmal getrennt anschauen. Unter psychoaktiven Substanzen versteht man alle Arten von Substanzen, die zu einer Veränderung des Verhaltens und Erlebens führen können, welche ohne die Zufuhr der Substanz nicht erfolgt wäre. Typische psycho-aktive Substanzen sind zum Beispiel Nikotin, Alkohol, Cannabis (THC), alle Opiate wie Kokain und Heroin, aber auch bestimmte Medikamente aus dem Bereich der Psychopharmaka. Im Folgenden geht es darum, die zwei unterschiedlichen Mechanismen der Abhängigkeit am Beispiel von Nikotin und Cannabis (THC) aufzuzeigen.

Wirkmechanismen der physischen Abhängigkeit

Der Grad der „körperlichen“ Abhängigkeit von einer Droge hängt von verschiedenen Faktoren: Wie hoch ist Absorbtionsgeschwindigkeit der Substanz durch den Körper? Wie schnell die Abbaugeschwindigkeit? Wie hoch ist (war) die (jeweilige) Dosierung? Wie gross ist die grundsätzliche neurobiologische Effektstärke der psychoaktiven Substanz ist? Wie lange dauert der regelmässige Konsum bereits? Das Zusammenspiel dieser Faktoren bestimmt die Ebene der körperlichen Abhängigkeit. Je nach Substanz, aber auch je nach Einnahmegewohnheit sind diese Faktoren unterschiedlich stark „im Spiel“.

Wirkmechanismus der psychischen Abhängigkeit

Die psychische Abhängigkeit entsteht hingegen ereignisgesteuert. Es braucht ein spezifisches Ereignis oder eine kontigente Ereigniskette. Unter „kontigent“ versteht man Ereignisse, die zeitlich und räumlich zusammenhängend wahrgenommen werden. Desweitern braucht es Lebensumstände und Probleme, die zu einer psychophysischen Anspannung und zu so genannten Stresssymptomen führen. Unter Stresssymptomen sind hier erhöhter Adrenalinausschuss, erhöhter Puls, mehr Transpiration, erhöhte galvanische Hautspannung, Pupillenerweiterung etc gemeint. Unter psychophysischer Anspannung verstehe ich folgendes: Unlust, Niedergeschlagenheit, Zorn, Ängste und Befürchtungen, pessimistische Gedanken etc. Psycho-physisch nenne ich diese Anspannungen deshalb, weil solche Gefühle und Gedanken eben auch ein körperliches Substrat haben. Sie tragen zu den messbaren Stresssymptomen bei und bilden die Verbindung zwischen der biologisch-körperlichen und der psychologischen Abhängigkeit.

Wenn nun in einem Zustand der psychologischen Anspannung eine psychoaktive Substanz konsumiert wird, so entsteht durch die Einnahme der Substanz ein real erlebter Abbau der Anspannung. Ebenso werden die Stresssymptome weniger deutlich wahrgenommen, es ensteht der Eindruck einer (Pseudo-) Reduktion. Dieser Spannungsabbau erfolgt dank der Droge. Er erfolgt nicht dank der Problemlösung. Das psychologisch Tückische an psychoaktiven Substanzen ist deren Fähigkeit, Stresssymptome und psychologische Anspannungen zu verändern, ohne das dazu passende (Lebens-) Problem verändern zu müssen.

Mit Lebensproblemen sind Probleme am Arbeitsplatz, in wichtigen Beziehungen oder auch Probleme im Zusammenhang mit einer als düster empfundenen Zukunftsaussicht gemeint. Solche Anspannungen respektive deren Ursachen, die Probleme eben, gehören zum Leben und können nicht einfach „abgeschafft“ werden. Sie sind im Gegenteil häufig wichtige Herausforderungen, an denen jede einzelne Person sich reibt und daran auch wachsen kann respektive wachsen muss (z.B. Entwicklungsaufgaben wie Berufsfindung im Jugendalter, Beziehung und Sexualität, Selbstwertentwicklung etc.)

Körperliche Abhängigkeit am Beispiel von Nikotin

Nikotin erzeugt, unter Berücksichtigung aller Faktoren, eine eher geringe körperliche Abhängigkeit. Allerdings sind die beiden Faktoren „Absorbtionsgeschwindigkeit“ und „Abbaugeschwindigkeit“ sehr ausgeprägt wirksam. Sie führen zu einem typischen Konsumverhalten, welches stark „physisch“ geprägt ist. Eine Dosis Nikotin in einer Zigarette wirkt nach ein paar Inhalationen bereits (im Sekundenbereich). Die Gesamtmenge einer Zigarette ist in ca. einer ¾ bis einer Stunde wieder abgebaut. Deshalb besteht bei vielen Rauchern auch das Bedürfnis, stündlich eine Zigarette zu konsumieren, damit der Nachschub an Nikotin für die neuronale Stimulierung gewährleistet bleibt. Der Abbau kann durch Trinken von Wasser noch deutlich beschleunigt werden, da Nikotin eine wasserlösliche Substanz ist.

Das „Verheerende“ an der Nikotinsucht ist also ihre schnelle Aufnahme und der schnelle Abbau. Dieser fast schon „frenetische“ Rhythmus bestimmt die körperliche Suchtkomponente bei Nikotin. Die Nikotin-Dosis ist hingegen in der Regel gering, die Effektstärke von Nikotin ebenso. Selbstverständlich kann man auch eine Nikotinvergiftung erleiden, allerdings sind solche Fälle selten. Dies zeigt, dass selbst bei massivster Dosierung der erzeugte Effekt nicht vergleichbar ist mit anderen Substanzen. Die Dauer der Einnahme von Nikotin spielt bei der körperlichen Abhängigkeit ebenso eine eher geringe Rolle, weil die Abbaugeschwindigkeit von Nikotin zu hoch ist. Deshalb darf zurecht behauptet werden, dass der Rauchstopp vor allem eine Frage der erfolgreichen Umstellung von Gewohnheit ist. Rauchstopp ist viel stärker eine psychologische Fragestellung und weniger eine Frage des klassischen Entzugs.

Körperliche Abhängigkeit am Beispiel von Cannabis

Anders verhält es sich mit Cannabis, deren psychoaktive Substanz abgekürzt THC genannt wird (Tetrahydrocannabinol). Die Aufnahmegeschwindigkeit durch den Körper von THC ist deutlich langsamer als bei Nikotin. Besonders auffällig ist aber die sehr langsame Abbaugeschwindigkeit. THC lagert sich bevorzugt im Fettgewebe des Körpers ab und wird aufgrund dessen nur sehr langsam abgebaut. Insbesondere deshalb, weil die Ablagerung in solchen Fettgeweben erfolgt, die zum „eisernen“ Bestand eines jeden Körpers gehören. Ein einmaliger Cannabis-Konsum kann so auch noch nach drei bis vier Wochen in einem Urin-Test nachgewiesen werden. Der sehr langsame Abbau wird vom Körper selber nicht mehr wahrgenommen. Es entsteht also kein vom Organismus geprägtes Verlangen nach einer erneuten neurobiologischen Stimulierung durch THC. Anders verhält es sich, wenn wir den Faktor „Dauer der Konsumgewohnheit“ hinzunehmen.

Wer seinen Körper regelmässig, unter Umständen während mehreren Monaten oder gar Jahren mit THC voll pumpt, wird dennoch auch körperliche Entzugserscheinungen verspüren, sollte er den Cannabis-Konsum reduzieren oder ganz damit aufhören. Dies hat aber mit der schieren Menge an aufgenommenen THC zu tun. Die THC-Depots sind dann über den Körper verteilt und nicht mehr nur bei den Fettzellen alleine. Ein solcher Abbau wird spürbar werden, allerdings ist die Heftigkeit des körperlich empfunden Entzugs dem von Nikotin vergleichbar (also eher gering). Dies umso mehr, da Cannabis häufig mit Nikotin/Tabak vermischt konsumiert wird und deshalb ein genuiner Zusammenhang zwischen Cannabis und Nikotin bestehen kann.

Die physische und psychische Abhängigkeit zusammen

Das Zusammenwirken dieser beiden Ebenen ist also höchst komplex. Grundsätzlich kann man als Faustregel folgendes sagen: Je höher die physische Abhängkeit, desto wahrscheinlich wird ein vorgängiger Entzug. Erst dann kann die psychische Abhängigkeit bearbeitet werden. Diese muss mit psychologisch-psychotherapeutischen Mitteln angegangen werden. Bei bestimmten Süchten wie Heroin oder Alkohol muss ein Substanzersatz oder im Falle von Alkohol ein Substanzeinnahmehemmer diese psychotherapeutischen Bemühungen unterstützen.