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Kategorie: Theorie | Wissenschaftliche Psychologie
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Viele Paare beklagen den Umstand, dass die Liebesgefühle und erst recht die Verliebtheitsgefühle zum Partner mit zunehmender Dauer schwächer werden. Nicht selten lautet ein Trennungsgrund, dass die Liebe einfach nicht mehr da sei.

Ich möchte nicht behaupten, dass das Fehlen von jeglicher affektiver Zuneigung kein Trennungsgrund sein kann. Allerdings möchte ich einen klugen Gedanken eines der Begründer der Psychoanalyse, Otto Rank (zoom-link), zu diesem Thema ausführen. Er sei hier kurz zitiert:

"Die Dichter haben die alles absorbierende Liebe zurecht mit dem Tod symbolisiert, als der totale Verlust der Individualität. Das oftmals missbrauchte Schlagwort des modernen Menschen, dass die Ehe die Liebe zerstöre, verliert einiges an seiner Schlagkraft, wenn man bedenkt, dass dies vielleicht sogar das Ziel der Ehe ist, nicht notwendigerweise die Liebe zu zerstören, aber sie zu mässigen, so dass es möglich wird, mit ihr zu leben. Denn reine Liebe tötet das Individuum als ein soziales Wesen, denn es bedeutet die komplette Aufgabe der Individualität." (zoom-link).

Otto Rank (1884-1939), Psychoanalytiker. Bild aus WikipediaOtto Rank, links stehend, Brille. Bildquelle: Wikipedia (de)

Ehe, langandauernde Beziehung, feste Bindung

Sei es nun eine Ehe, eine langandauernde Beziehung oder eine feste Bindung, egal, wie wir es nennen wollen: Alle scheinen diesem Gesetz der abnehmenden Liebesverbundenheit mehr oder weniger unterworfen zu sein. Es stellt sich deshalb die Frage, ob eine solche regelmässig zu beobachtende Entwicklung nicht auch den Sinn hat, den Otto Rank in seinem Zitat oben ausführt?

Ich denke, es kommt einem grossen Missverständnis gleich, sich grundsätzlich zu beklagen, dass die Liebesgefühle schwächer oder zumindest "anders" geworden sind mit der Dauer der Beziehung. Wenn zwei Menschen auf ewig in reiner Liebe und Verliebtheit verbunden wären, dann wäre die Entwicklung der Persönlichkeit und das Entfalten der Individualität dieser beiden Menschen sehr behindert. Sie wären auch keine sozialen Wesen mehr. Menschen aber sind in ihrem Innersten soziale Wesen und haben gleichzeitig ein Streben nach Individualität. Dieser doppelte innere Kern kann kein Mensch verleugnen, auch die Liebe wird diesen doppelten Kern nicht auslöschen können. Er wird sich als Individualität einerseits und als soziales Wesen andererseits weiterhin Geltung verschaffen, in der einen oder anderen Art. Sei es als Frau und Mann im privaten Leben, sei es als Berufsmann oder Berufsfrau, sei es als Mutter oder Vater der Kinder, die man gemeinsam gross zieht.

Das Abnehmen oder das In-den-Hintergrund-Treten der Liebesgefühle zum Partner schafft für die sich liebenden Personen Raum, Individualität zu haben und als soziale Wesen gegenüber der Aussenwelt aufzutreten. Wären die beiden Menschen über zwei Jahrzehnte so verbunden wie sie es in den ersten Wochen und Monaten waren, dann würde die Individualität und das soziale Wesen eines jeden verkümmern. Wir Menschen, auch verliebte Menschen, sind und bleiben nun aber mal Individuen, mit unseren eigenen Ichs und dem persönlichen Selbst, das individuell nach Entfaltung drängt und sozial sich mit Mitmenschen verbindet und sich breiter abstützt als "nur" auf eine einzige Beziehung.

will therapy otto rank

Eine Frage des Gleichgewichts

Auf der anderen Seite ist es natürlich auch für eine langjährige Beziehung wichtig, die affektiven und emotional positiven Verbindungen zueinander weiterhin zu spüren. Das Bedürfnis nach Nähe in den verschiedensten Formen bleibt. Dass die Gefühlsstärke aber abnimmt, ist nichts Beklagenswertes, sondern dem Umstand geschuldet, dass das Selbst sein Recht nach Individualität und sozialer Verbundenheit mit der Aussenwelt wieder einfordert. Man könnte deshalb den Sinn der Ehe oder einer langjährigen Partnerschaft (durchaus gemäss dem zitierten Otto Rank) darin sehen, den Platz der Liebe soweit zu reduzieren, dass ein gewisses Mass an Individualtität und weiteren sozialen Bezügen zur Aussenwelt wieder möglich ist, ohne die Liebe und die liebende Bindung aus dem Leben zu verbannen. 

Literatur

Otto Rank (1936): Will Therapy. The Therapeutic Applications of Will Psychology. The Norton Library.

Anmerkung: "Will Therapy" ist die englische Übersetzung der Bände II und III der "Technik der Psychoanalyse (Band II, Die Analytische Reaktion in ihren Konstruktiven Elementen, Band III, Die Analyse des Analytikers und seiner Rolle in der Gesamtsituation, 1929 und 1931)